106
Wir müssen neue Informationen in das Gleichgewicht einbringen und damit unser Verhalten verändern. Es ist ein menschlicher Charakterzug, durch Intelligenz zu überleben – als Individuum und als Spezies.
Naib Ishmael, Eine Zensunni-Wehklage
Lord Bludd zitierte die ältesten Gesetze von Poritrin, als er die schreckliche Strafe für Bel Moulays Verbrechen verkündete. Die meisten Sklaven sollten begnadigt werden, da Poritrin ihre Arbeitskraft brauchte, aber den Anführer des Aufstands konnte man nicht freisprechen.
Ishmael stand dicht neben Aliid. Die gefangenen Jungen stützten sich gegenseitig in ihrer Betroffenheit. Man hatte die jungen Sklaven von der Schlucht nach Starda zurückgebracht und gezwungen, der Exekution zu beizuwohnen. Als Bestrafung für die Schäden am Wandbild würde Niko Bludd sie mit verlängerten Schichten an die Arbeit zurückschicken. Aber erst, nachdem sie die Konsequenzen des törichten Verhaltens von Bel Moulay miterlebt hatten. Alle Sklaven waren zu diesem Anlass anwesend.
Die Jungen drängten sich müde und hungrig zusammen. Ihre Kleidung war verschmutzt, und sie stanken, weil sie sich seit Tagen nicht hatten waschen können. Die Aufseher hatten sie angeknurrt: »Wenn ihr euch wie Hunde benehmt, wird man euch wie Hunde behandeln. Wenn ihr euch menschlich verhaltet, werden wir es uns vielleicht anders überlegen.«
Aliid fluchte leise.
Auf dem Zentralplatz von Starda führten Dragonerwachen den Rebellenführer in Ketten zu einer erhöhten Plattform, die eigens zu diesem Spektakel errichtet worden war. Die Menge verfiel in unbehagliches Schweigen. Man hatte Moulay das Haar und den Bart geschoren; nur noch blasse Stellen am Kinn und auf dem Kopf zeugten davon. Doch seine Augen glühten mit unerschütterlicher, zorniger Zuversicht, als wollte er nicht anerkennen, dass seine Rebellion gescheitert war.
Die Wachen in den goldenen Rüstungen rissen dem Zenschiiten-Führer die Gewänder vom Leib. Sie warfen die Kleidung von der Plattform, sodass Moulay völlig nackt und gedemütigt dastand. Die Sklaven murrten, aber ihr Anführer bewahrte eine tapfere und unerschrockene Haltung.
Lord Bludds Stimme hallte über den Platz. »Bel Moulay, Sie haben schwere Verbrechen gegen alle Bürger von Poritrin begangen. Es ist mein Recht, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind zu bestrafen, die sich an diesem Aufruhr beteiligt haben, aber ich will Gnade walten lassen. Sie allein sollen die Strafe für Ihre Vergehen erleiden.«
Die Menge stöhnte leise. Aliid schlug eine Faust in die offene Hand. Bel Moulay sagte nichts, aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände.
Niko Bludd bemühte sich, seinen Worten einen gönnerhaften Klang zu geben. »Wenn Sie alle aus diesem Geschehen lernen, werden Sie möglicherweise eines Tages das Recht erwerben, wieder ein normales Leben in Knechtschaft zu führen, um Ihre Schuld gegenüber der Menschheit abzahlen zu können.«
Nun heulten die Sklaven auf. Die Dragoner rückten ein Stück vor und schlugen ihre Stäbe mit den langen Klingen auf den Boden. Ishmael spürte, dass die Sklaven trotz der schlechten Stimmung ein bezwungenes Volk waren, zumindest vorläufig. Sie sahen, wie ihr Anführer öffentlich gedemütigt wurde, wie er in Ketten gelegt, geschoren und nackt vorgeführt wurde. Obwohl er sich nicht geschlagen gab, hatten seine Anhänger den Antrieb verloren.
»Die alten Gesetze sind grausam«, fuhr Bludd fort, »manche würden sie sogar als barbarisch bezeichnen. Aber da Ihre Taten unzivilisiert und barbarisch waren, kann die Antwort nur mit gleicher Härte erfolgen.«
Bel Moulay erhielt keine Gelegenheit, etwas zu seiner Verteidigung zu sagen. Stattdessen schlugen die Dragonerwachen ihm mit einem Hammer die Zähne aus, dann griffen sie mit langen Metallzangen in seinen Mund. Moulay wehrte sich trotzig, aber er zeigte keine Angst. Mit chirurgischer Präzision schnitten sie ihm die Zunge heraus und warfen das blutige Stück Fleisch in die Menge.
Als Nächstes benutzten sie ihre scharfen Äxte und hackten ihm die Hände ab, die sie ebenfalls in die Menge schleuderten. Bel Moulays blutige Stümpfe versprühten einen roten Regen. Dann wurden ihm mit glühenden Eisen die Augen ausgebrannt. Erst kurz vor dem Ende gab er Schmerzlaute von sich, doch irgendwie fand er die Kraft, sie zu unterdrücken.
Der geblendete Rebellionsführer konnte nicht sehen, was seine Folterer in den goldenen Rüstungen vorbereiteten. Er spürte nur, wie sie ihm eine Schlinge um den Hals legten und ihn über einen Galgen emporzogen. Er wehrte sich, als die Schlinge immer fester auf seine Luftröhre drückte und ihn langsam erstickte, ohne dass ihm das Genick gebrochen wurde. Selbst nach den furchtbaren Verletzungen schien er immer noch bereit zu sein, gegen die Wachen zu kämpfen, wenn sie ihm nur die winzigste Chance lassen würden.
Ishmael erbrach sich auf den Boden. Mehrere Jungen gingen schluchzend in die Knie. Aliid biss die Zähne zusammen, als würde er tausend Schreie in seiner Kehle unterdrücken.
* * *
Nach der Hinrichtung hatte Norma Cevna ein eiskaltes Gefühl in den Eingeweiden. Sie sprach kaum zu Tio Holtzman, der seinen besten weißen Anzug trug und mit grimmiger Miene zusah.
»Schließlich hat er es selbst zu verantworten, nicht wahr?«, sagte der Weise. »Wir haben unsere Sklaven nie schlecht behandelt. Warum musste Bel Moulay uns so etwas antun? Warum musste er uns im Kampf gegen die Denkmaschinen in den Rücken fallen?« Holtzman atmete tief durch und schaute auf die kleinwüchsige Frau. »Vielleicht können wir uns jetzt endlich wieder unserer Arbeit widmen. Ich vermute, die Sklaven werden sich nun zu benehmen wissen.« Norma schüttelte nur den Kopf. »Diese Unterdrückung ist unklug.« Aus der Ferne schaute sie ein letztes Mal auf den am Galgen hängenden Körper, der immer noch zuckte. »Lord Bludd ist es lediglich gelungen, einen Mann zum Märtyrer zu machen. Ich befürchte, diese Sache ist noch längst nicht zu Ende.«